Schäferdichtung: Von Vergil nach Arcadia

Schäferdichtung: Von Vergil nach Arcadia
Schäferdichtung: Von Vergil nach Arcadia
 
In den Jahren 42 bis 39 v. Chr. war in Rom eine Dichtung entstanden, die zu einem zeitüberdauernden literarischen Modell wurde: Die zehn Eklogen umfassenden »Bucolica« (Hirtengedichte) Vergils. In ihnen hatte der Dichter in Anlehnung an den griechischen Lyriker Theokrit, aber zugleich doch weit über ihn hinausgehend, jenes paradiesische Land Arkadien beschrieben, dessen Bewohner im Einklang mit den Göttern und mit der Natur ihren Beschäftigungen nachgehen, ihre musischen Wettstreite austragen und immer wieder ihre - meist unglückliche - Liebe besingen. Gegen die Wirren des Bürgerkrieges hatte Vergil damit einen Ort wunderbarer Harmonie und vollkommenen Friedens gestiftet, der sich in verwandten historisch-politischen und psychosozialen Situationen jeweils zeittypisch aktualisieren ließ. Die Deutung der vierten Ekloge als Vorausahnung von. Christi Geburt förderte die europäische Wirkung von Formen und Inhalten der Sammlung. So existieren seit der Karolingerzeit mittellateinische Eklogen mit den Schäferfiguren Vergils, mit ihren geistlichen, politischen oder allegorischen Umdeutungen. Dante, Petrarca und Boccaccio führten diese Tradition fort, und es ist der Verfasser des »Decamerone«, der mit seiner Dichtung »Die Nymphe von Fiesole« und der idyllischen Erzählung »Ameto« die Hirtendichtung in die Volkssprache überführte und damit eine Flut von Schäferliteratur provozierte, in die zum Teil neben den antiken Elementen solche aus mittelalterlichen Pastorellen einflossen.
 
Angelo Polizianos dramatische Fassung des Orpheusmythos, die »Fabula di Orpheo«, die wohl 1478 entstand, bediente sich der Vorbilder Vergil und Ovid und »verschmolz« diese gewissermaßen. Am bedeutendsten für die Entfaltung der arkadischen Überlieferung in der Neuzeit wurde jedoch Iacopo Sannazaro aus Neapel mit seinem Schäferroman »Arcadia« (1504). Der Text, der in zwölf Prosaabschnitte mit jeweils angefügten Eklogen gegliedert ist, ist in Toskanisch geschrieben und markiert damit auch einen wichtigen Moment in der Geschichte der sprachlichen Einheit Italiens. Sannazaro erzählt von Sincero, einem unglücklich Liebenden, der sich von Neapel nach Arkadien begibt, um in der Schäfer- und Naturidylle seinen Frieden zu finden. Er hört den Liebeserzählungen der Hirten zu, ihren Gesängen und Gedichten, nimmt an ihren Festen teil und erzählt von seinem eigenen Kummer. Am Ende gelangt er auf fantastische Weise nach Neapel zurück und erfährt vom Tod seiner Geliebten. Der Autor hat in die eigentümlich statische Handlung viel Autobiographisches eingebracht. Dies umgibt er jedoch mit einem feinen Gewebe von Textbezügen, die unter anderem auf Vergil, Petrarca und Boccaccio weisen. Zart und melancholisch band er so seine persönliche Erfahrung an die sehnsüchtige Evokation einer für immer verlorenen Welt.
 
In ihrer zauberhaften Ursprünglichkeit kann diese Welt aber auch den Hintergrund für den Preis von Natürlichkeit und individueller Erfüllung abgeben, die die gegenreformatorische Strenge aus dem Blickfeld des Einzelnen zu verbannen suchte. So, aber auch als Spiegel der höfischen Gesellschaft von Ferrara, kann Tassos lyrisches Schäferstück »Aminta« gedeutet werden, das im Sommer 1573 durch die Komödiantentruppe der Gelosi auf der Po-Insel Belvedere uraufgeführt wurde, ein leises Spiel um Liebe und Verweigerung, das von der leidenschaftlichen Zuneigung des Hirten Aminta zu der Nymphe Silvia erzählt. Sie bleibt so lange abweisend, bis sie in dem Moment der Furcht, Aminta habe sich zu Tode gestürzt, ihre Liebe zu dem bis dahin Verschmähten entdeckt. Begleitet werden die beiden von den weltklugen Gefährten Dafne und Tirsi, die den raschen Liebesgenuss propagieren und mahnend auf die Vergänglichkeit von Jugend und Leidenschaft hinweisen. Sie tragen dem Stück einen Realismus ein, der den Reiz Arkadiens scheinbar infrage stellt.
 
Tassos Nachfolger am ferraresischen Hof, Battista Guarini, schuf mit dem »Pastor fido« (1590) eine pastorale Tragikomödie, die die Gattung weit über Italien hinaus bekannt machte. In den mythologischen Rahmen einer Bedrohung durch Diana ist die übliche Handlung von abgewiesener Zuneigung, falscher Beschuldigung und böser Verführung eingebettet, die schließlich doch zu einem guten Ende, diesmal sogar mit Doppelhochzeit, führt. Das Stück, das mit seiner bewussten Gattungsmischung auch gegen die Vormacht der aristotelischen Poetik geschrieben wurde, weist mit seiner vielstimmigen und preziösen Bildersprache bereits auf Manierismus und Barock.
 
Spanien entzog sich der Schäfermode ebenfalls nicht. Juan del Encinas dramatische Eklogen sind dafür ein Beispiel, ein anderes die zarten Hirtendichtungen Garcilaso de la Vegas. Ein Werk aber übertraf sie bei weitem an Wirkung: die spanisch geschriebenen »Siete libros de la Diana« (1559) des Portugiesen Jorge de Montemayor, die bis 1581 in 15 Auflagen erschienen waren und von einer Reihe zum Teil bedeutender Autoren fortgesetzt und nachgeahmt sowie ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt wurden. Erfüllt vom neuplatonischen Geist der »Dialoghi d'amore« (1535) des Leo Hebraeus, den er sogar wörtlich zitiert, schildert Jorge de Montemayor in der Haupthandlung der »Diana« die unerfüllte Liebe Sirenos zu Diana. Sireno bittet die Zauberin Felicia mit anderen unglücklich Liebenden um Hilfe, nachdem sich alle untereinander die Geschichten ihrer Leiden erzählt hatten. Durch einen magischen Trank der Zauberin werden Sirenos Gefühle für Diana in Gleichgültigkeit verwandelt. Arkadische Landschaftsbeschreibungen, verliebte Gespräche und theoretische Diskussionen über die Liebe bereichern das Werk ebenso wie eine nach Jorges Tod eingefügte Maurengeschichte.
 
Von ganz ähnlichem Zuschnitt ist Miguel de Cervantes' erstes Werk, der Schäferroman »La Galatea« (1585), in dessen Mittelpunkt die kapriziöse Hirtin Galatea und ihre beiden Verehrer Erastro und Elicio wie die Verkörperung von Poesie und Wirklichkeit stehen. Um die Rahmenhandlung herum ist eine Vielzahl von Episoden locker angeordnet, in denen die unterschiedlichsten Liebeskonflikte behandelt werden. Ort der Schilderungen ist auch hier Arkadien, das diesmal idyllisch, heiter und harmonisch am Tajo liegt. Dem Werk, das wie seine Vorbilder Prosa und Vers mischt, sind bei aller rationaleren Einfärbung seine Quellen deutlich anzusehen: die Werke Sannazaros, Jorge de Montemayors, Leo Hebraeus'.
 
In der »Galatea« sagt Cervantes, die Romanfiguren wirkten nur durch ihr Äußeres wie Hirten. Dies hat die Interpreten dazu gebracht, hinter den fiktiven Gestalten historische Persönlichkeiten zu suchen. In Lope de Vegas pastoralem Schlüsselroman »Arcadia« (1598) haben die Figuren tatsächlich einen historischen Hintergrund. Der Held Anfriso ist der Herzog von Alba, in dessen Diensten Lope das Buch verfasste, und hinter Belisarda verbirgt sich die herzögliche Geliebte. Lope selbst nimmt als Belardo an den Ereignissen teil. Die Lehre aber, die er erteilt, ist desillusionierend: Vor dem Hintergrund der eigenen Zeit ist die Vorstellung von einer idealen Welt näherungsweise nur noch in Künsten und Wissenschaften erreichbar. In der Marcela-Episode seines »Don Quijote« stellte Cervantes die arkadische Vorstellungswelt noch weiter infrage, indem er die absolut gesetzten Größen Freiheit und Liebe als unvereinbar darstellte.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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